TIROLER TAGESZEITUNG: Leitartikel vom 8. September 2017 von Benedikt Mair – Schwarz auf weiß

Innsbruck (OTS) - Zehntausende Tiroler können weder richtig lesen noch schreiben. Wie viele genau, weiß niemand. Die letzten zu Tirol erhobenen Zahlen stammen von vor zehn Jahren. Ein Problem, das man nicht kennt, kann man nicht bekämpfen.

Für sie bedeutet „schwarz auf weiß“ nicht dasselbe wie für die meisten. Eben nichts Konkretes. Sondern irgendwas Schwarzes auf einem weißen Blatt Papier. Die Buchstaben, die Schrift können sie nicht einordnen, deuten, verstehen. Analphabeten sind in vielen Lebensbereichen benachteiligt: Beruflich, gesellschaftlich, sogar der alltägliche Einkauf im Supermarkt wird zur Herausforderung. Mindestens 35.000 Menschen in Tirol sind von dem Problem betroffen. Fast fünf Prozent der Bevölkerung. Eine erschreckende Zahl für ein Land im Herzen Europas.
In Wahrheit dürften es jedoch viel mehr sein, die des Lesens und Schreibens nicht mächtig sind. So genau weiß das niemand. Auf die Anfrage, wie viele Analphabeten es in Tirol gebe, wird von der Landesverwaltung eine Zahl von vor zehn Jahren genannt. Nun hat sich in dieser Zeit viel getan, die Gesellschaft sich gewandelt. Besonders seit Sommer 2015 sind wir mit einer weitreichenderen Veränderung konfrontiert, die auch in der Alphabetisierungsquote des Landes ihre Spuren hinterlassen hat: die Flüchtlingswelle, insbesondere aus Afrika. In den weniger entwickelten Ländern ist es alles andere als selbstverständlich, dass Lesen und Schreiben erlernt wird. Kommen diese Menschen zu uns, haben sie große Probleme, sich zu integrieren, zurechtzufinden, einen Arbeitsplatz zu erhalten.
Wie aber will man ein Problem bekämpfen, das man nicht genau kennt? Wenn man es nicht schwarz auf weiß hat, wogegen man angeht? Es mag schwer sein, ein Problem wie den Analphabetismus statistisch zu erfassen. Kaum jemand würde offen zugeben, dass er nicht lesen oder schreiben kann. Nichtsdestotrotz ist es ein Armutszeugnis, dass der letzte genaue Blick auf diese Problematik bereits eine Dekade zurückliegt.
Es bleibt zu hoffen, dass die Verantwortlichen den heutigen Weltalphabetismustag als Ansporn nehmen, dieses Problem wieder ernster zu nehmen; es in seinem ganzen Ausmaß zu erfassen, damit es auch effektiv bekämpft werden kann. Ebenfalls darf man nicht weiter warten, bis sich die Betroffenen selbst an die Beratungsstellen wenden. Ein offensiver Umgang mit dem Analphabetentum, das Nicht-Verstecken des Problems, kann den Menschen ihre Angst vor ihrer Schwäche nehmen, den Mut geben, sie zu bekämpfen. Und vielleicht, in ein paar Jahren, liegt es dann wirklich schwarz auf weiß auf dem Tisch: So gut wie jeder Tiroler kann lesen.

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