Tiroler Tageszeitung, Leitartikel vom 26. November 2022. Von Christian Jentsch: „Erdogan eskaliert, der Westen schweigt“.

Innsbruck (OTS)

Die Türkei macht gegen die kurdisch dominierte Selbstverwaltung in Nordsyrien mobil. Auch eine Bodenoffensive ist geplant. Im Schatten des Ukraine-Kriegs hat Präsident Erdogan offenbar freie Bahn.

Er hat schon lange davon gesprochen, nun hat er den idealen Zeitpunkt dafür gefunden. Eine Woche nach dem Bombenanschlag von Istanbul am 13. November gab der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan den Befehl zu einer neuen Offensive des türkischen Militärs gegen die Kurden-Milizen in Nordsyrien und im Nordirak. Ziel der massiven Angriffe aus der Luft und vom Boden sind Stellungen und Einrichtungen der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei PKK und vor allem der kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) in Syrien, die Ankara als Ableger der PKK betrachtet. Hunderte Menschen, darunter auch Zivilisten, wurden bei den Angriffen bereits getötet. Doch es geht Erdogan und seiner Regierung nicht nur um die Zerstörung von Ölanlagen und Ausbildungszentren der kurdischen Milizen, die Teile Nordsyriens kontrollieren und bei der Bekämpfung des weiter in der Region aktiven IS eng mit den USA zusammenarbeiten. Es geht um weit mehr. Ankara ist die kurdisch dominierte Selbstverwaltung in Nordsyrien direkt an der Grenze zur Türkei schon längst ein Dorn im Auge. Seit 2016 ist die Türkei bereits mehrfach in Nordsyrien einmarschiert und hat Regionen besetzt. Dort haben sich in der Folge auch radikal-islamistische Gruppen wie die Haiat Tahrir al-Scham, die der Terrororganisation Al-Kaida nahesteht, breitgemacht. Nun bereitet die Türkei eine neue Bodenoffensive vor. Dabei schlug Erdogan alle Bedenken der USA und Russlands in den Wind. Und das obwohl US-amerikanische und russische Soldaten in Nordsyrien stationiert sind. Erdogan will die kurdische Frage mit Gewalt lösen. Und der innenpolitisch angeschlagene Präsident – die Türkei steckt in einer tiefen Wirtschaftskrise mit Hyperinflation – versucht mit der Eskalation und der nationalistischen Karte das Ruder vor den Wahlen im Juni kommenden Jahres noch herumzureißen.
Und der Westen? Die Kurden waren zwar gut genug, um im Kampf gegen den IS den Kopf hinzuhalten. Doch wenn es um geostrategische Interessen geht, werden sie ganz schnell wieder fallengelassen. Im Schatten des Ukraine-Kriegs hat Erdogan offenbar freie Bahn. Sowohl der Westen als auch Russland sehen die Türkei als wichtigen Vermittler. Die NATO und EU-Spitzen üben sich jedenfalls in konsequentem Schweigen. Von der NATO als Wertegemeinschaft – die Türkei ist NATO-Mitglied – ist plötzlich nichts mehr zu hören. Man hat eben andere Interessen. So müssen die Regierungen Schwedens und Finnlands in Ankara antanzen, um das türkische Ja zum NATO-Beitritt ihrer Länder zu erbetteln. Mit dem Flüchtlingsdeal hat Erdogan zudem ein gewichtiges Druckmittel gegen Europa in der Hand. Die viel gepriesenen Werte haben da nichts zu suchen.

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