TIROLER TAGESZEITUNG „Leitartikel“ vom 25. März 2017 von Mario Zenhäusern „Kein Grund zum Feiern“

Innsbruck (OTS) 60 Jahre lang hat die Europäische Union für Frieden und Stabilität in Europa gesorgt. Ausgerechnet zum runden Jubiläum steht sie vor ihrer größten Bewährungsprobe, droht an ihren unterschiedlichen Geschwindigkeiten zu scheitern.

Brexit-Verhandlungen, aufkeimender Nationalismus in einem Teil der Mitgliedsländer, ungelöste Flüchtlingskrise und, damit zusammenhängend, mangelnde Solidarität innerhalb der Gemeinschaft, Finanz- und Wirtschaftskrise, Terrorbekämpfung und zu guter Letzt das problembehaftete Verhältnis zu den Großmächten USA und Russland: Zum 60. Geburtstag kämpft die Europäische Union an so vielen Fronten wie selten zuvor.
Gänzlich konfliktfrei war das Verhältnis zwischen den Mitgliedsstaaten in Wahrheit nie. Von Anfang an herrschte ein Ungleichgewicht zwischen den wirtschaftlich erfolgreichen, finanzstarken Ländern im Norden und dem ärmeren Süden Europas. Eine Schieflage, die sich spätestens in der Euro-Krise zu einem Problem mit internationalen Dimensionen entwickelte.
Mit der Ost-Erweiterung eröffnete die Union eine neue Front. Einige der neuen Mitgliedsstaaten verlangen zwar lautstark ihren Anteil am großen Finanzkuchen, stellen sich aber bei den damit verbundenen Pflichten taub. Die Visegrád-Staaten Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn etwa zeigen der EU die kalte Schulter, wenn es um die gerechte Verteilung von Flüchtlingen geht. Die Solidarität unter den EU-Mitgliedern steht im Wettstreit der nationalstaatlichen Interessen auf verlorenem Posten.
Norden gegen Süden, Westen gegen Osten: Die als Wertegemeinschaft gegründete Europäische Union bietet derzeit ein bizarres Bild, das sich von einer Union, also einer Einheit, je länger je mehr entfernt. Fakt ist, dass Europa 60 Jahre nach den Verträgen von Rom geteilt ist in einen Kernbereich und in den großen Rest. Zum so genannten „inner circle“ zählen Deutschland, Frankreich und die Benelux-Staaten. In einigen Überlegungen spielen auch Österreich und die skandinavischen Staaten eine Rolle. Ob Italien in diesen Kreis aufsteigt, hängt von der finanzpolitischen Zukunft des Landes ab. Großbritannien hat sich selbst aus dem Rennen genommen.
Die Spaltung ist offiziell noch nicht vollzogen, aber das scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein. In Rom werden die 27 Mitgliedsstaaten (Großbritannien fehlt bereits) heute eine Grundsatzerklärung beschließen. Zentrale Antwort der Politiker auf die Frage, wo die EU in zehn Jahren stehen werde: Sie soll eine „ungeteilte und unteilbare Union“ bleiben, die, wo immer möglich, zusammenarbeitet, jedoch „mit unterschiedlichen Schritten und Intensitäten, wenn nötig“. Das ist nichts anderes als die diplomatische Umschreibung der Zweiteilung – und kein Grund für ausgelassene Feiern.

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