Tiroler Tageszeitung, Leitartikel vom 2. Jänner 2023. Von Peter Nindler: „Der lange Schatten Benedikts“.

Innsbruck (OTS) Mit seinem Rücktritt im Jahr 2013 gab der verstorbene Benedikt XVI. dem Papsttum ein menschliches Antlitz. Der eme­ritierte Pontifex war allerdings auch eine Belastung für seinen Nachfolger. Franziskus ist jetzt erstmals alleiniger Papst.

Joseph Ratzinger lebte den Widerspruch: Vielen ist der am Silvestertag verstorbene emeritierte Papst Benedikt XVI. deshalb fremd geblieben, wie der ARD-Journalist Martin Polansky seinerzeit das Pontifikat Benedikts charakterisiert hat. Nach dessen überraschendem Rückzug vom Amt 2013. Sein Rücktritt war historisch, aber auch weitsichtig. Und mutig, weil er damit dem Fortschritt im Vatikan eine Chance gegeben hat. Denn Benedikt selbst, dem das Image eines ängstlichen Antimodernisten zugeschrieben wird, fremdelte zeitlebens mit den rasanten gesellschaftlichen Veränderungen und blockierte dadurch notwendige Reformen in der Kirche. An seinem bereits 2006 verfassten geistlichen Testament, das nach seinem Tod veröffentlicht wurde, hielt er immer eisern fest: „Steht fest im Glauben! Lasst euch nicht verwirren!“
Franziskus ist jetzt mit seinen 86 Jahren erstmals alleiniger Pontifex. Sein Vorgänger hatte vor zehn Jahren den Weg für eine vorsichtige Öffnung freigemacht, der Emeritus im Vatikan wurde allerdings auch zur Last für Franziskus. Weil der als einer der exzellentesten Theologen des 20. Jahrhunderts anerkannte Benedikt dort weiterhin präsent war und sich als Schutzpatron des konservativen Kirchenflügels sah. Sein Umgang mit dem im Vorjahr präsentierten Münchner Gutachten zum Missbrauch im Erzbistum München und Freising, in dem der ehemalige Erzbischof von München (1977 bis 1982) ebenfalls belastet wird, offenbarte die Spannungen. Für den Innsbrucker Theologen Roman Siebenrock hatte Benedikt außerdem sein Versprechen nicht eingehalten, dass er nach seinem Rücktritt nur noch schweigen und beten werde.
Franziskus, dem wie einst Benedikt nicht nur die Strapazen des Amtes, sondern die altersbedingten körperlichen Gebrechlichkeiten bereits anzusehen sind, weiß, dass ihm nicht mehr viel Zeit auf dem Stuhl Petri bleibt. Mit der Kurienreform, der Einbeziehung von männlichen und weiblichen Laien, hat er zuletzt den Vatikan etwas entstaubt. Der synodale Prozess mit der großen Bischofssynode 2024 dürfte letztlich das Urteil über das Pontifikat von Franziskus bestimmen. In den Diözesen werden Geschlechtergerechtigkeit, noch mehr Partizipation von Laien und auch die Weihe von Frauen gefordert.
Mit dem Blick auf die Weltkirche und die Kirchenverfassung tut sich Franziskus damit nicht leicht. Jorge Mario Bergoglio steht somit vor seinen schwierigsten Papst-Jahren. Die Erwartungen sind groß, die anfängliche Dynamik des Argentiniers jedoch verblasst. Nach der Bischofssynode wird Franziskus wohl dem Beispiel Benedikts folgen und zurücktreten. Schließlich gab Joseph Ratzinger 2013 mit dem Tabubruch dem Papsttum ein menschliches Antlitz.

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