TIROLER TAGESZEITUNG „Leitartikel“ vom 2. Dezember 2022 von Peter Nindler „Noch gibt es Mauern des Schweigens“

Innsbruck (OTS) Der Missbrauch in kirchlichen Heimen ist Teil eines dunklen Kapitels in der Tiroler Sozialgeschichte. Mit wissenschaftlicher Aufarbeitung und Einordnung wird jetzt der Blick zurück geschärft. Auch die Kirche muss mit diesem Tabu endlich brechen.

Es ist ein erschütterndes, aber vor allem wissenschaftlich aufgearbeitetes Zeugnis über die Tiroler Sozialgeschichte nach 1945. Weil versucht wird, das Unvorstellbare vorstellbar zu machen, wie es im 400 Seiten umfassenden Forschungsbericht über die „Fremdunterbringung in konfessionellen Heimen in Tirol“ heißt. Was durch die Aufdeckung des institutionalisierten Missbrauchs im Mädchenerziehungsheim Martinsbühel der Benediktinerinnen in Zirl angestoßen wurde, enttabuisieren jetzt 75 Interviews durch ihre vielschichtige Einordnung in den damaligen Kontext der Jugendwohlfahrt sowie in den Alltag der in kirchlichen Heimen untergebrachten Kinder und Jugendlichen.
Es klingt bitter, dass die Kinder dort Demut lernen sollten. Doch Demütigung, Abwertung und Entpersonalisierung verbunden mit Missbrauch und (sexualisierter) Gewalt waren dafür das beherrschende Erziehungsmittel. So wurden die katholischen Heime in den Klöstern nicht nur als „geschlossene Anstalten“ oder als Gefängnisse empfunden, die dicken Mauern erstickten das Martyrium der Schutzbefohlenen und wehrten die notwendige Kontrolle ab. Aber wollte die öffentliche Fürsorge damals überhaupt kontrollieren, war sie nicht vielmehr Handlanger? Weil sie die meist aus sozial schwachen Familien stammenden verhaltensauffälligen Kinder einfach nur abgeschoben hat.
Schon die Aufarbeitung der Vorgänge im Landeserziehungsheim in St. Martin in Schwaz oder in der Kinderbeobachtungsstation von Maria Nowak-Vogl in Innsbruck, der Vorgängereinrichtung der Kinder- und ­Jugendpsychiatrie in Tirol, in der auch das dunkle Kapitel in der Kinder-und Jugendpsychiatrie schonungslos beleuchtet wird, hat das strukturelle Versagen der öffentlichen Fürsorge aufgezeigt. Am Ende blieben traumatisierte, missbrauchte und ausgebeutete junge Menschen zurück, ihrer Zukunftsperspektiven beraubt. Das System hat die Schwächsten der Gesellschaft weiter geschwächt.
Umso mehr benötigt es heute einen klaren Blick auf die damaligen Zustände. Mit dem aktuellen Forschungsprojekt zu den kirchlichen Erziehungseinrichtungen in Tirol wird er allerdings nachdrücklich geschärft. Gleichzeitig muss sich die Kirche mehr denn je ihrer Verantwortung für die von ihren Ordensmitgliedern und Priestern ausgeübte physische und psychische Gewalt bewusst werden. Dass laut Abschlussbericht eine breite Akzeptanz von einstigen Missständen sowie Anerkennung von Misshandlungs- und Missbrauchserfahrungen besonders in konfessionell geführten Einrichtungen bis heute nicht vorhanden ist, stimmt nachdenklich. Offenbar gibt es noch zu viele Mauern des Schweigens.

Rückfragen & Kontakt:

Tiroler Tageszeitung
0512 5354 5101
chefredaktion@tt.com



Quelle

OTS-ORIGINALTEXT PRESSEAUSSENDUNG UNTER AUSSCHLIESSLICHER
INHALTLICHER VERANTWORTUNG DES AUSSENDERS. www.ots.at

(C) Copyright APA-OTS Originaltext-Service GmbH und der jeweilige Aussender.

Eigenes Pressefach für Ihre Pressemeldungen - Pressefach.eu

Durch die weitere Nutzung der Seite stimmst du der Verwendung von Cookies zu. Weitere Informationen

Die Cookie-Einstellungen auf dieser Website sind auf "Cookies zulassen" eingestellt, um das beste Surferlebnis zu ermöglichen. Wenn du diese Website ohne Änderung der Cookie-Einstellungen verwendest oder auf "Akzeptieren" klickst, erklärst du sich damit einverstanden.

Schließen