TIROLER TAGESZEITUNG „Leitartikel“ vom 18. April 2019 von Peter Nindler „Wie die kleine Kirche im Dorf“

Innsbruck (OTS) Angesicht (weltweiter) sozialer Krisen können Milliarden-Spenden für die schwerbeschädigte Pariser Kathedrale Notre-Dame auch aufregen. Andererseits ist es positiv, dass in einer globalisierten Welt historische Werte noch bewegen.

Wow! Innerhalb von zwei Tagen wurde eine Milliarde Euro für den Wiederaufbau der Kathedrale Notre-Dame in Paris gespendet. Ob derart hohe Beträge für die Restaurierung eines schwerbeschädigten kirchen-und kulturhistorischen Wahrzeichens gerechtfertigt sind, darüber gehen aktuell die Meinungen auseinander.
Greifen nämlich Großindustrielle und Wirtschaftsmagnaten PR-erprobt in ihre mit Milliarden gefüllten Geldschatullen, geraten sie schnell in den Geruch, Ablasshandel zu betreiben. Denn nach wie vor protestieren die nicht immer mit tauglichen Mitteln für soziale Gerechtigkeit kämpfenden Gelbwesten in den französischen Städten gegen die stetig auseinanderklaffende Schere zwischen Arm und Reich. Doch plötzlich sind die Millionen da. Aber nicht, um die soziale Ungleichheit in Frankreich zu beseitigen, sondern für ein altes Gemäuer, das mit jährlich 14 Millionen Besuchern noch dazu unverzichtbar für die Tourismuswirtschaft ist.
Sozialpolitik lässt sich allerdings nicht privatisieren, sie ist die ureigenste Aufgabe eines Staates. Die französische Regierung muss die soziale Ungleichheit bekämpfen und das Auseinanderdriften der Gesellschaft stoppen. Notre-Dame kann hier vielleicht Vorbild für einen nationalen Kraftakt sein, der sich dann in den gesellschaftlichen Herausforderungen fortsetzt. Nicht mehr und nicht weniger. Und vorerst nur symbolisch.
Hinter der weltweiten Betroffenheit („Wie konnte das nur möglich sein?“) und der nationalen sowie internationalen Solidarität („Notre-Dame muss rasch wieder aufgebaut werden, koste es, was es wolle.“) steckt freilich so etwas wie die Sehnsucht nach Werten. In einer hochtechnologisierten und digitalisierten Welt, in der auf Knopfdruck globale Krisen ausgelöst werden können, wo verstörende „Fake News“ und Hasspostings den letzten Funken menschlicher Vernunft ausblasen und die umsichgreifende Gigantomanie die Menschen kleinmacht, stemmt sich ein 850 Jahre altes Bauwerk dieser Entwicklung entgegen. In seiner Zerstörung elektrisiert es die Massen.
Weil Notre-Dame Symbol für eine Nation ist, für Geschichte, Kultur und auch Glauben. Weil die Kathedrale einen bleibenden Wert verkörpert und sie die Wirren der Französischen Revolution mit ihrer zeitweiligen Entweihung überstanden hat. So gesehen ist das Pariser Wahrzeichen wie die kleine Kirche im Dorf. Wackelt der Kirchturm, wird ebenfalls gespendet. Weil er sinn- und identitätsstiftend wirkt. Auch in einer zunehmend verweltlich-
ten Gesellschaft.

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