TIROLER TAGESZEITUNG: Leitartikel vom 18. April 2017 von Christian Jentsch – Ein Pyrrhussieg für Erdogan

Innsbruck (OTS) Nur eine knappe Mehrheit der Türken unterstützt Erdogans Weg zur Alleinherrschaft. Doch mit der Spaltung der Gesellschaft und der demonstrativen Abkehr von Europa hat Präsident Erdogan möglicherweise die Büchse der Pandora geöffnet.

Er gab sich auf dem langen Marsch zur Alleinherrschaft siegessicher. Seine Landsleute mussten beim Referendum am Sonntag mehrheitlich für die Einführung eines Präsidialsystems stimmen – eines Präsidialsystems, das seine ohnehin bereits umfassende Machtfülle noch weiter ausbauen und einzementieren wird. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan wollte sich auf den letzten Metern bis zur Erfüllung seines großen Ziels nicht mehr stoppen lassen. Er setzte alles auf eine Karte, um erfolgreich zu sein – von der Einschüchterung der Opposition über die bewusst in Kauf genommene Spaltung der Gesellschaft und den für ihn selbst gefährlichen Pakt mit den Ultranationalisten bis hin zum immer gehässiger geführten Feldzug gegen Europa.
60 Prozent Ja-Stimmen legte Erdogan als Wunschziel fest. Ein Ziel, an dem er ganz klar scheiterte. Vor allem wenn man bedenkt, dass der Wahlkampf alles andere als fair geführt wurde und Vertreter des Nein-Lagers als Verräter gebrandmarkt wurden, sind 51,3 Prozent der Stimmen eine magere Ausbeute. Vor allem weil Erdogan in den großen Metropolen Istanbul, Ankara und Izmir eine Abfuhr erlitt und neben den Kurdengebieten auch der Westen des Landes gegen die Verfassungsreform stimmte. Knapp 50 Prozent der Türken wollen keine Ein-Mann-Herrschaft Erdogans – 50 Prozent, die man wohl kaum einfach so aus dem Weg schaffen kann. Erdogan sprach am Sonntagabend trotzdem von einer „historischen Entscheidung“, um gleich darauf vor seinen Anhängern von der Wiedereinführung der Todesstrafe zu sprechen – nicht nur für Brüssel eine rote Linie. Es wird also weiter provoziert und polarisiert. Es werden Gräben ausgehoben, die kaum mehr zu überwinden sind – innerhalb der türkischen Gesellschaft und in den Beziehungen zu Europa. Während Demokratie und Rechtsstaatlichkeit Schritt für Schritt zu Grabe getragen werden, rückt Europa in immer weitere Ferne. Und ohne Europa ist für die Türkei der Traum vom Wirtschaftswunderland wohl rasch ausgeträumt.
In der Türkei stimmte nur eine hauchdünne Mehrheit für die Einführung des Präsidialsystems. In Deutschland und vor allem in Österreich – hier errang das Ja-Lager bei den türkischen Wählern fast eine Dreiviertelmehrheit – war die Unterstützung für Erdogan deutlich größer. Doch wer in einer Demokratie lebt und sich gleichzeitig in seiner Heimat für ein autoritäres System ohne Pressefreiheit und womöglich mit Todesstrafe ausspricht, kann nicht in einer liberalen Welt angekommen sein. In Sachen Integration gibt es offenbar noch gewaltigen Handlungsbedarf.

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