TIROLER TAGESZEITUNG „Leitartikel“ vom 11. Jänner 2023 von Michael Sprenger „Ein verzweifelter Aufschrei“

Innsbruck (OTS) Wahlkämpfende Politikerinnen und Politiker fordern harte Strafen bei Klima-Blockaden. Die „Letzte Generation“ will sich Gehör verschaffen. Die Regierung scheitert derweil an ihren eigenen Zielsetzungen. Wir leben in finsteren Zeiten.

Man sagt mir: iß und trink du! Sei froh, daß du hast!/Aber wie kann ich essen und trinken, wenn/Ich es dem Hungernden entreiße, was ich/esse, und/Mein Glas Wasser einem Verdurstenden fehlt?“
In seinem Gedicht „An die Nachgeborenen“ hinterließ Bertold Brecht einen der bedeutendsten Texte der deutschen Exil­literatur. Heute erleben Brechts Zeilen längst neue Wirkkraft in finsteren Zeiten. Gemeint ist der verzweifelte Kampf gegen die Auswirkungen des Klimawandels.
Es ist ein Aufschrei. Von hier und dort. Die „Letzte Generation“ will sich Gehör verschaffen für ihr Anliegen. Sie sieht sich als jene Generation, deren Aufgabe es sein muss, die Erderwärmung zumindest noch einzubremsen.
Und ja – wer will noch die Auswirkungen des Klimawandels leugnen? Nein, wir leugnen nicht, aber wir anderen wollen uns auch nicht einschränken?
Für die zum Teil jungen Aktivistinnen und Aktivisten ist dieses Verhalten von uns Älteren Ausdruck von Verlogenheit. Sie kleben sich auf Straßen fest. Und provozieren damit bei Autofahrern eine Gegenreaktion. Hass und Ärger entstehen.
Die Gutmeinenden unter den Aufgeklärten schütteln leicht den Kopf. Mit so einem Protest schadet man doch nur der Sache. Die wahlkämpfenden Politikerinnen und Politiker, wie aktuell in Niederösterreich, wollen harte Strafen für die Blockierer. Sie zeigen sich solidarisch, aber nicht mit der Generation, die um ihre Zukunft auf dem Planeten bangt. Es ist die Generation, die um ihre Jobs bangt, mitunter um ihren Gewinn, die von den PolitikerInnen, die gewählt werden wollen, gehört wird.
Und was macht die Bundesregierung bei alledem? Sie wirft den jugendlichen Klimaaktivisten ein „respektloses“ Verhalten vor. Ausgesprochen hat dies Jugendstaatssekretärin Claudia Plakolm von der ÖVP. Aber was fordern die Kämpferinnen der „Letzten Generation“ eigentlich? Das scheint Plakolm egal zu sein. Namhafte Wissenschafter unterstützen deren Forderung nach einem Tempo-100-Limit. Doch Plakolm meint, das sei doch zu simpel. Man müsse an den großen Schrauben drehen. Die Staatssekretärin weiß aber nicht, wo sich diese Schrauben befinden. Denn hierzu sagte sie uns nichts.
Es geht also nicht um den Inhalt des Protests. Der interessiert nicht. Es geht um die Form des Widerstands. Mit der Umsetzung des Inhalts könnte man vielleicht die Erderwärmung eindämmen. Mit harten Strafen für Klimaaktivisten kann man aber Wahlen gewinnen. Das zählt.

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