TIROLER TAGESZEITUNG „Leitartikel“ Montag, 17. Juli 2017, von Christian Jentsch: „Mit Angst und Rache ins Verderben“

Innsbruck (OTS) Das Jahr nach der Putschnacht hat die Türkei nachhaltig verändert. Der Rechtsstaat wird zunehmend ausgehebelt, die Opposition zum Schweigen gebracht. Die Türkei unter Erdogan war einst Hoffnungsträger, heute droht die Autokratie.

So mancher hatte ja gedacht, dass die Zeit die Wunden heilt. Und dass der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan nach seinem – äußerst knappen – Sieg beim Verfassungsreferendum zur Einführung eines von ihm geforderten Präsidialsystems gemäßigtere Töne anschlagen wird. Doch ein Jahr nach der Putschnacht war von Mäßigung nichts zu hören. Ganz im Gegenteil.
In den Reden zum Gedenken an den gescheiterten Putsch und seine Opfer drehten der türkische Präsident und seine Gefolgschaft weiter am Rad der Eskalation. Man werde den „Verrätern die Köpfe abreißen“, erklärte Erdogan in Istanbul. Und Parlamentspräsident Kahraman von der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP erklärte, „denjenigen, die unsere Werte angreifen, die Hände brechen, die Zungen abschneiden und ihr Leben vernichten“ zu wollen. Martialische Worte, die Böses für die Zukunft der Türkei erahnen lassen. Und auch die Wiedereinführung der Todesstrafe, die vor dem Beginn der EU-Beitrittsverhandlungen abgeschafft wurde, machte Erdogan wieder zum Thema. Den Drohungen der EU, in diesem Fall die Beitrittsgespräche sofort abzubrechen, zum Trotz. Ohnehin scheint der Beitritt der Türkei zur EU in immer weitere Ferne gerückt zu sein. Das Jahr nach der Putschnacht hat die Türkei jedenfalls nachhaltig verändert. Erdogan, der 1999 noch selbst von der damals vom Militär beherrschten Staatsmacht als Oberbürgermeister von Istanbul ins Gefängnis geworfen wurde, sieht sich mittlerweile auf dem Zenit der Macht. Und diese will er mit Zähnen und Klauen verteidigen. Der politischen Opposition und Andersdenkenden – auch wenn sie mit den Putschisten rein gar nichts zu tun haben – wird die Luft abgeschnürt. Der gescheiterte Militärcoup ließ dann schließlich alle Dämme brechen. Und nicht nur die für den Putsch verantwortlich gemachte Bewegung des Predigers Fethullah Gülen wird mit aller Härte verfolgt. 150.000 Staatsbedienstete wurden suspendiert oder entlassen, 50.000 sitzen in Untersuchungshaft, darunter rund 200 missliebige Journalisten. Und der Kurdenkonflikt eskaliert, im Osten des Landes herrschen bürgerkriegsähnliche Zustände.
Erdogan galt einst als Hoffnungsträger, auch im Westen. Mit ihm sollten Islam, Demokratie und Marktwirtschaft unter einen Hut gebracht werden. Heute scheint der Traum geplatzt zu sein. Ein aus Angst und Rache gebauter Weg in Richtung Autokratie wird das Land ins Verderben stürzen.

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