TIROLER TAGESZEITUNG „Leitartikel“ Montag, 14. Dezember 2020, von Michael Sprenger: „Ein Lob auf den Verfassungsgerichtshof“

Innsbruck (OTS) Verabschieden sich Höchstrichter immer mehr von ihrer althergebrachten Rolle einer politikfreien Normenprüfung? Ja! Urteilt der Verfassungsgerichtshof politischer? Ja, und das ist gut so! Und wer trägt die Verantwortung? Die Regierenden.

Die Entscheidung des Höchstgerichts ist zu akzeptieren.“ Diese Phrase wird zumeist mit einer säuerlichen Miene geäußert, wenn Regierende wieder einmal eine Niederlage zu verkraften haben. Also stimmt die Annahme, dass Höchstrichterinnen und Höchstrichter immer politischer agieren? Man könnte dies rasch bejahen, sollte dann aber jedenfalls erklären, warum es zu dieser Entwicklung kam. Zuvorderst ist festzuhalten: Als SPÖ und ÖVP noch gemeinsam regierten und im Parlament eine Zweidrittelmehrheit hatten, betrieben sie jahrelang mit der Verfassung Schindluder, indem sie Gesetze in den Verfassungsrang hoben. So kann man den Verfassungsgerichtshof ausbremsen – und entmachten.
Diese Zeiten sind längst vorbei, umso mehr wird von Koalitionen aber versucht, bei Richterernennungen ihren Einfluss beim Höchstgericht zu erweitern. Besonders sichtbar wurde dies zuletzt immer dann, wenn es zu einem Machtwechsel kam. Dass dieses politische Kalkül bis heute jedoch nicht in dem Ausmaß aufgegangen ist, hängt damit zusammen, dass Richter, sind sie einmal ernannt, nicht für sich die Figur einer Marionette ­einnehmen wollen. Allerdings ist man nicht davor gefeit, dass dies einmal passiert.
Damit ist zwar die Zunahme des politischen Einflusses erklärt, nicht aber die Frage beantwortet, warum das Höchstgericht in seiner Urteilskraft politischer wurde. Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass die Regierenden oftmals dafür sorgen, dass der Gesetzgeber, also der Nationalrat, sehr schlechte Gesetze verabschiedet. Dies war etwa so bei den Corona-Maßnahmen. Für ein anderes Kapitel steht exemplarisch das jetzt aufgehobene Kopftuchverbot. Regierende mit ausgeprägtem Sendungsbewusstsein wollen wider die Grundrechte einer Gesellschaft unbedingt ihren Stempel aufdrücken. Ein weiteres Kapitel könnte mit Angst-Politik umschrieben werden. Politiker wollen auf gesellschaftspolitische Veränderungen nicht reagieren, weil sie Angst vor ihren Wählern haben. Also rührt man Themen wie Homo-Ehe und Verbot der Sterbehilfe erst gar nicht an, obwohl man es besser wissen müsste. Zuletzt bleibt noch die österreichische Schlampigkeit. Irgendwann sind Richter nicht mehr bereit, ein „Das haben wir immer so gemacht“ hinzunehmen. Als Beispiel hierfür steht die Bundespräsidentenwahl.
Also – nicht der Verfassungsgerichtshof ist das Problem. Er ist unser aller Verbündeter im Kampf gegen Willkür, Schlamperei und politische Fehlleis­tung.

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