TIROLER TAGESZEITUNG „Leitartikel“ Mittwoch, 4. Juli 2018, von Christian Jentsch: „Willkommen im Theater der Eskalation“

Innsbruck (OTS) Im Asylstreit stößt Europa an seine Grenzen. Mit Provokation und Zuspitzung werden die Fundamente des Gemeinsamen untergaben. Ein Stück, das am Ende keinen Applaus ernten wird.

Vorhang auf für das große Krisen­theater, eine Tragödie in mehreren Akten. Ein Stück voller Übertreibungen und Zuspitzungen. In den Hauptrollen die Unsicherheit und die Angst, das inszenierte Chaos führt Regie.
Aufgeführt wurde das Stück zuletzt in München und Berlin. In jenem Deutschland, das bis zuletzt als letzter sicherer Hafen für ein Europa galt, das im Begriff ist, sich selbst zu zerfleischen, das er­drückt wird von innen und von außen. Nun fliegen also auch in diesem Deutschland die Fetzen. Am Montag noch stand die Union vor dem Abgrund und mit ihr die ganze Regierung in Berlin und mit ihr in Kombination mit dem Ausscheiden Deutschlands bei der Fußball-WM überhaupt das ganze Land. Und wenn Deutschland wankt, wankt Europa. Viel Ende auf einmal also.
Doch die Union, Deutschland und Europa konnten am späten Montagabend noch einmal aufatmen. Wurde zumindest verkündet. In wieder einmal letzter Minute wurde eine Einigung im Asylstreit zwischen Kanzlerin Merkel von der CDU und ihren Beinahe-Totengräbern von der CSU (Innenminister Seehofer, Bayerns Ministerpräsident Söder und Landesgruppenchef Dobrindt) erzielt. Angeblich. Was präsentiert wurde, klingt freilich sonderbar und scheint kaum durchführbar. Einerseits will man Transitzentren in einer Art Niemandsland an der bayrisch-österreichischen Grenze errichten. Von dort aus sollen die Asylbewerber unter Aushebelung des Dublin-Systems in die zuständigen EU-Länder zurückgebracht werden. Andererseits will man – falls es keine Abkommen mit den entsprechenden Ländern gibt – die Ankommenden an den Grenzen einfach nach Österreich zurückschicken. Europarechtliche Fragen wurden ausgeblendet, man arbeitet mit juristisch kaum haltbaren Winkelzügen. Und die Regierung in Wien? Stand zwar im Asylstreit auf der Seite der CSU, ist nun aber in der Zwickmühle. Man will schließlich nicht zum Warteraum für Flüchtlinge werden. Wobei die Situation an den Grenzen wie am Brenner alles andere als außer Kontrolle ist und die Zahl der aufgegriffenen Migranten das lautstarke Gebrüll im Asylstreit alles andere als rechtfertigt. Doch im Theater des Eskalation geht es nicht um langfristige Lösungen, sondern um Zuspitzung. Politik ist heute weniger Aussöhnung als vielmehr Provokation – von Trump bis Erdogan und zunehmend auch in Europa­. Wenn die Wohlstandsmaschine EU ins Stottern gerät, die Totengräber der Union ihren Sieg feiern und Europa zu Grunde provoziert wurde, senkt sich der Vorhang. Und es wird keinen Applaus geben.

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