TIROLER TAGESZEITUNG, Leitartikel: „Katar: Empörung und Doppelmoral“, von Christian Jentsch

Ausgabe vom Samstag, 19. November 2022

Innsbruck (OTS) Das wirtschaftlich und politisch nach den Sternen greifende Emirat ist als Gastgeber der Fußball-Weltmeisterschaft massiver Kritik ausgesetzt. Doch was jetzt in Katar empört, interessiert sonst leider kaum jemanden.

Über Katar, das Gastgeberland der am Sonntag beginnenden Fußballweltmeisterschaft, ergießt sich eine Flut von Kritik. Viele Fußball-Fans wollen die Großveranstaltung boykottieren. Die Vergabe im Jahr 2010 durch das Exekutivkomitee des Weltfußballverbandes FIFA steht unter Korruptionsverdacht. Stimmen sollen gekauft worden sein, heißt es. Im Fokus stehen auch die Menschenrechtsverletzungen in dem nach Pro-Kopf-Einkommen reichsten Land der Welt. Während die rund 300.000 katarischen Staatsbürger eine kostenlose Rundum-Versorgung genießen, haben Hunderttausende Arbeitsmigranten wenig bis keine Rechte. Menschenrechtsorganisationen und Medien berichteten davon, dass beim Bau der Stadien und der Infrastruktur Tausende Gastarbeiter gestorben seien.
Gerade was die miserablen Arbeits- und Lebensbedingungen der Gastarbeiter in Katar betrifft, darf die Welt nicht wegschauen. Aber sich jetzt groß darüber zu empören, dass Katar alles andere als ein demokratisches Musterland ist, die Meinungsfreiheit eingeschränkt ist und die Rechtsprechung auf der Scharia beruht, wirkt schon etwas aufgesetzt. All das war hoffentlich schon bei der Vergabe im Jahr 2010 klar. Ja, Katar liegt beim Demokratie-Index auf den hinteren Plätzen. Genauso wie seine Nachbarn, das fundamentalistisch-religiöse Saudi-Arabien oder Bahrain, die noch weit repressiver regiert werden. Und auch in Dubai, dessen Luxushotels und Vergnügungsparks zahlreiche Europäer anziehen, gilt die islamische Rechtsprechung. Auch hier werden die Luxuspaläste von Gastarbeitern mit sicher nicht fairen Arbeitsverträgen gebaut. Übrigens: Auf der weltpolitischen Bühne hat Katar als Vermittler oft gute Figur gemacht. Und es hat – anders als viele Kriegsparteien in Afghanistan – Zehntausende Afghanen auf der Flucht vor den Taliban ausgeflogen.
Abseits der Fußball-WM scheinen Menschenrechte ohnehin keine Rolle zu spielen. Erst im Frühjahr war der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) zu Besuch bei Emir Tamim bin Hamed Al Thani in Doha. Sein Begehr: Flüssiggas aus Katar. Der kleine Wüstenstaat verfügt über die weltweit drittgrößten Erdgasreserven der Welt. Da wollen Deutschland und ganz Europa im Bestreben, sich von Russland zu entkoppeln, groß ins Geschäft kommen, Menschenrechtsfragen sollen da nicht stören. Auch in Sachen Nachhaltigkeit kann man über die neugebauten Fußballstadien in Katar die Stirn runzeln. Nur: Die Fußball-Weltmeisterschaften etwa in Brasilien oder Südafrika waren auch alles andere als nachhaltig. Die Korruption blühte und was blieb, waren gewaltige Schuldenberge und Megastadien, die nach den Großevents niemand mehr brauchte. Die Rechnung zahlten jene, die ohnehin nichts hatten.

Rückfragen & Kontakt:

Tiroler Tageszeitung
0512 5354 5101
chefredaktion@tt.com

[ad_2]

Quelle

OTS-ORIGINALTEXT PRESSEAUSSENDUNG UNTER AUSSCHLIESSLICHER
INHALTLICHER VERANTWORTUNG DES AUSSENDERS. www.ots.at

(C) Copyright APA-OTS Originaltext-Service GmbH und der jeweilige Aussender.