TIROLER TAGESZEITUNG, Leitartikel: „Europäischer Geist?“, von Mario Zenhäusern

Ausgabe vom 14. Juli 2018

Innsbruck (OTS) Der berechtigte Wunsch der Menschen nach Schutz vor ausufernder legaler und unkontrollierbarer illegaler Migration hat die Nationalisten stark gemacht. Gemeinschaftliches Denken ist ins Hintertreffen geraten. Leider.

Der Gipfel der EU-Innenminister ist vorbei, und viele sind zufrieden. Vor allem die Vertreter der „Kooperation der Tüchtigen“, Horst Seehofer, Matteo Salvini und Herbert Kickl. Ihnen ist es gelungen, die Tore der Festung Europa ein Stück weiter zu schließen. Seehofer ortete einen „Gemeinschaftsgeist“, Kickl sprach von „sehr, sehr breitem Konsens“. Der für die Asylpolitik der EU zuständige Kommissar Dimitris Avramopoulos machte zwar unmissverständlich klar, dass von einer Migrations- oder Asylkrise keine Rede mehr sein könne, dass die Zahlen im Vergleich zu 2015 stark rückläufig seien, dem gemeinsamen Wunsch der Innenminister nach verstärktem Schutz der Außengrenzen wollte und konnte sich aber auch er nicht verschließen. Spätes­tens 2020 sollen 10.000 Frontex-Polizisten illegale Einreisen in die EU verhindern.
Für Tirols Landeshauptmann Günther Platter hat sich beim Gipfel in Innsbruck der „Europäische Geist“ durchgesetzt. Schließlich hätten die Minister die angedrohten Grenzkontrollen in Kufstein und am Brenner abgewendet.
Aber wie steht es wirklich um diesen vielzitierten „Europäischen Geist“? Nur zur Erinnerung: Mit dem Beitritt zur Europäischen Union haben alle Mitgliedstaaten auch den Artikel 2 im EU-Vertrag unterschrieben, in dem es wörtlich heißt: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“ Diese Werte sind in vielen Mitgliedstaaten nicht einmal das Papier wert, auf dem sie zu lesen sind.
Die Flüchtlingskrise von 2015 hat Euro­pa grundlegend verändert. Der berechtigte Wunsch der Bevölkerung nach Schutz vor einer ausufernden legalen und einer unkontrollierbaren illegalen Migration ließ vielfach nationalstaatliches Denken an die Stelle des Gemeinschaftsgeistes treten. Will die Europäische Union aber als Friedens- und Sozialprojekt überleben, wird sie genau diese Entwicklung stoppen müssen. Eine zugegeben schwierige Aufgabe in einer Zeit, in der die Nationalisten Europa vor sich her treiben und die Entmenschlichung der Asylpolitik als Sieg feiern. Aber eine Aufgabe ohne Alternative.

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