TIROLER TAGESZEITUNG, Leitartikel: „Europa am Scheideweg“, von Floo Weißmann

Ausgabe vom Donnerstag, 28. Mai 2020

Innsbruck (OTS) Die EU-Kommission will nach der Pandemie neue Wege beschreiten. Beim Feilschen um den Wiederaufbau und um das neue EU-Budget geht es auch um die Zukunft der europäischen Integration.

Lange schien die EU-Kommission zuzusehen, wie die Pandemie die europäische Integration gleichsam rückabwickelt. In der Krise war den Mitgliedstaaten das Hemd näher als der Rock, und die gerade erst angetretene Kommission konnte oder wollte dem wenig entgegensetzen. Mit den Entwürfen für einen Wiederaufbaufonds und für den EU-Haushalt der kommenden Jahre hat sich die Kommission als Mitgestalterin der europäischen Politik zurückgemeldet.
Auf dem Tisch liegt nun eine Verhandlungsgrundlage, die in einigen Punkten neue Wege weist. Dazu zählen etwa gemeinsame Schulden sowie neue Eigeneinnahmen der EU, um diese Schulden zumindest teilweise zu bedienen. Viele Details sind noch unklar, und das große Feilschen steht erst bevor. Aber es wäre eine Überraschung, wenn sich der Beschluss am Ende nicht stark an den offenbar wochenlang austarierten Kompromissvorschlag der Kommission anlehnt.
Gegner gemeinsamer Schulden, zu denen Österreich zählt, werden Bedingungen stellen und Korrekturen erwirken. Aber aus heutiger Sicht ist es schwer vorstellbar, dass sie gegen den Willen der Mehrheit der europäischen Akteure ein gänzlich anderes Konzept durchsetzen.
Die Debatte um die „Sparsamen Vier“ ähnelt ein wenig jener um die „Nettozahler“ und geht ebenso an der europäischen Realität vorbei. Der Nutzen von Europa lässt sich nicht am Beitragssaldo oder an indirekten Geldtransfers ablesen. Gerade exportorientierte Länder wie Österreich profitieren enorm vom Binnenmarkt. Und alle Länder – besonders die kleineren – profitieren davon, auf der Weltbühne als Teil eines größeren Ganzen aufzutreten.
Dieser Nutzen geht verloren, wenn starke Ungleichgewichte innerhalb der EU die wirtschaftliche und politische Stabilität der gesamten Union untergraben. Die Pandemie verstärkt diesen Effekt. Großen Mitgliedstaaten wie Italien droht der Kollaps. Sie wieder auf die Beine zu bringen, ist keine Akt der Nächstenliebe, sondern sichert die eigenen Vorteile. Deutschland, noch in der Schuldenkrise als Europas Sparmeister berüchtigt, hat deswegen eine bemerkenswerte Kehrtwende eingeleitet.
Wenn es gelingt, mit dem Wiederaufbaufonds und dem neuen EU-Haushalt zugleich in Zukunftsbereiche wie Digitalisierung zu investieren und die europäischen Strukturen krisenfester zu machen, dann kann die Pandemie langfristig sogar als Katalysator der europäischen Integration dienen. Europa steht jetzt an einem Scheideweg.

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