TIROLER TAGESZEITUNG, Leitartikel: „Doch kein Schweigepräsident“, von Michael Sprenger

Ausgabe vom 13. September 2017

Innsbruck (OTS) - Alexander Van der Bellen wollte ein aktiver Präsident sein. Zuletzt interpretierte er seine Rolle jedoch klassisch. Mit seiner Rede an die Nation an einem ungewöhnlichen Termin versucht er, seinem Rollenverständnis näher zu kommen.

Die Erklärung war gut formuliert. Schließlich war es ein ungewöhnlicher Termin für die Rede an die österreichische Bevölkerung. In der Vergangenheit wandte sich das Staatsoberhaupt immerzu am Nationalfeiertag und zu Neujahr an das Volk. Alexander Van der Bellen machte eine Ausnahme. Am 15. Oktober wählt Österreich einen neuen Nationalrat. Und für ihn ist der Wahltag einer „der höchsten Feiertage, den eine Demokratie zu bieten hat“.
Er nützte also eine Rede an das Volk, um zur aktiven Teilnahme an der Wahl aufzurufen und den Parteien ins Gewissen zu reden. Sein Appell blieb grundsätzlich.
Die Rede hingegen hat viel mit dem Suchen Van der Bellens nach seinem Rollenverständnis zu tun. Seine Wahl war in mehrerlei Hinsicht einzigartig. Erstmals brachte keine der alten und bislang dominierenden Parteien ihren Kandidaten in die Stichwahl. Die Wahl musste wiederholt werden und erstmals wurde in Europa mit Van der Bellen ein ehemaliger Parteichef der Grünen zum Staatsoberhaupt gewählt. Ein Aufatmen ging damals durch die EU. Van der Bellens klarer Wahlsieg gegen den FPÖ-Kandidaten Norbert Hofer wurde als Sieg gegen den Rechtspopulismus gefeiert.
Selbst wenn damals das Gerede von der gespaltenen Nation übertrieben war, war Van der Bellen bemüht, Zurückhaltung an den Tag zu legen. Schließlich übte er bereits im Wahlkampf den unabhängigen Kandidaten. Kaum angelobt, trudelte die Regierungskoalition längst ihrem Ende zu. Für Van der Bellen war in den ersten Monaten seiner Amtszeit sein Versprechen, das Amt innenpolitisch aktiv zu interpretieren, schwer einzulösen. Er tauchte zwar nicht ab, aber er interpretierte das Bundespräsidentenamt klassisch. Reisen ins Ausland, Festspieleröffnungen im Inland. Zwischendurch einmal eine bewusst gesetzte Geste. Dieses Verhalten nährte jedoch zusehends stille Kritik an ihm. Vor allem von seinen Wählern.
Van der Bellen wusste, dass er vor dieser Wahl behutsam agieren muss. Interview-Anfragen ließ er abblocken. Wer will, kann in einer aufgeheizten Stimmung jede Aussage missinterpretieren. Die Kopftuchdebatte hat Van der Bellen wohl nicht vergessen. Also wählte er den kleinen Traditionsbruch. Eine überlegte Rede entlang des Manuskripts abseits von Neujahrskonzert und Staatsbeflaggung. Ein Schweigepräsident wollte er doch nicht sein. Seine Bewährungsprobe kommt nach der Wahl. Einen aktiven Präsidenten wird es dann jedoch brauchen.

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