TIROLER TAGESZEITUNG, Leitartikel: „Die Deppen der Nation“, von Michael Sprenger

Ausgabe vom Donnerstag, 11. Juli 2019

Innsbruck (OTS) Wer will sich den Job des Bürgermeisters noch länger antun? Macht mag eine Rolle spielen, das Ansehen wohl nicht. Immer mehr Hass schlägt ihnen entgegen, immer mehr Verantwortung wird auf die Kommunen abgewälzt.

In Wahlkampfzeiten haben die Phrasendrescher Saison. Nicht nur bei Sonntagsreden, auch wochentags. An den einstudierten Formulierungen der Politiker werden wir erkennen, dass wieder allerorten um Wählerstimmen gebuhlt wird. „Wir müssen näher zu den Leuten.“ „Unsere Politik muss direkt bei den Menschen ankommen.“ „Wir nehmen die Sorgen der Bürger ernst.“ So oder so ähnlich wird in den kommenden Wochen Bürgernähe umschrieben.
Je mehr diese Phrasen um sich greifen, desto größer der Abstand zu den Angesprochenen. Dieser Befund gilt naturgemäß nur in abgeschwächter Form für die Kommunalpolitiker. Für Bürgermeister mag es mitunter wie eine Drohung, wie eine Verhöhnung klingen, wenn Bundespolitiker vorgeben, sehnsüchtig „die Nähe zu den Menschen“ zu suchen. Die allermeisten Gemeindechefs könnten gut und gerne auf allzu engen Kontakt zu den Bewohnern verzichten.
Je kleiner die Gemeinde, desto unmittelbarer die Auswirkung von Politik. Welcher Bürgermeister kann nicht davon ein Lied singen:
Bürger pöbeln ihn an, weil immer noch keine Umwidmung des Grundstückes in Bauland vorliegt, weil nach drei Monaten immer noch die Baustelle für Staub und Lärm sorgt – und die Schwiegermutter keinen Platz im Altenheim hat.
Doch damit wurden Kommunalpolitiker immer schon konfrontiert. Das ist nichts Neues. Wohl aber, dass immer weniger Bürger demokratische Entscheidungen akzeptieren, sich in Hass verrennen.
Bürgermeister sehen sich immer öfter (un-)mittelbarer Gewalt ausgesetzt. So betrachtet verdient ihr Gehalt nicht einmal mehr das Wort Entschädigung.
Stattdessen spüren Kommunalpolitiker, dass Land und Bund Gesetze beschließen, die die Städte und Gemeinden oft vor unlösbare Aufgaben – auch in finanzieller Hinsicht – stellen. Die Verantwortung steigt, ein Fuß des Gemeindechefs kommt dabei in der Nähe des Kriminals zu stehen. Nein, es ist keinesfalls so, dass die Beschlüsse in den Landtagen und im Nationalrat nicht richtig und wichtig wären. Bei Ortschefs mehrt sich nur der Eindruck, dass sie immer mehr „die Deppen der Nation“ sind. Zahlreiche Bürgermeister fragen sich daher zu Recht: Warum soll ich mir diesen Job noch länger antun? Die Phrasendrescher im Wahlkampfzeiten liefern ihnen jedenfalls keine Argumente für das Weitermachen.

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