TIROLER TAGESZEITUNG, Leitartikel: „Bei der Zukunft gespart“, von Floo Weißmann

Ausgabe vom Dienstag, 21. Juli 2020

Innsbruck (OTS) Wenn Europa sich für den globalen Wettbewerb des 21. Jahrhunderts fit machen will, genügen die üblichen Minimalkonsense nicht mehr. Es braucht eine größere Vision.

Rückblende: Europas Staats- und Regierungschefs kamen am vergangenen Freitag zu einem Sondergipfel zusammen. Es ging um einen historischen Kraftakt, mit dem sich Europa aus der schlimmsten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg herauswinden und für den globalen Wettbewerb mit China, den USA und anderen aufstellen will. Es ging um Hilfe für angeschlagene Mitgliedstaaten und um Investitionen in die Herausforderungen der kommenden Jahre – von der Digitalisierung bis zum Klimaschutz.
Drei Tage später war gestern Abend noch nicht absehbar, ob beim Finanzrahmen und dem geplanten Wiederaufbauprogramm ein großer Wurf gelingt. Stattdessen wurde – soweit es nach außen drang – taktiert, gefeilscht und erpresst, bis manchem Teilnehmer der Kragen platzte. Finanzpolitische Kleinkrämerei und Machtspiele statt europäische Vision.
Eine Teil-Einigung gab es zunächst nur beim Umfang des Wiederaufbauprogramms. Die so genannten „Sparsamen“ – darunter Österreich – feierten, dass es ihnen gelungen war, gegen die Mehrheit der EU die geplanten Zuschüsse zu schrumpfen. Diese nicht zurückzahlbaren Hilfen bilden aber das Herz des Wiederaufbaus. Am liebsten hätten die „Sparsamen“ überhaupt nur Kredite vergeben. Doch Staaten, die unter einer hohen Schuldenlast stöhnen, können davon kaum profitieren.
Wirksame Hilfe liegt im langfristigen Interesse der gesamten EU. Auch den vielbeschworenen Steuerzahlern der besser gestellten Länder ist nicht gedient, wenn Italien und andere am Abgrund taumeln und Europa bald in die nächste wirtschaftliche und politische Krise stürzen. Gedient ist ihnen vielmehr, wenn die Auszahlung von EU-Geld an nachhaltige Kriterien und eine transparente Überwachung gekoppelt wird. Dass dazu auch rechtsstaatliche Prinzipien gehören, sollte eine Selbstverständlichkeit sein, drohte aber am Widerstand von Polen und Ungarn zu scheitern.
Bis zu einem gewissen Grad folgt der Gipfelbasar den europäischen Strukturen. Da verhandeln nationale Regierende, die vor allem das heimische Publikum im Auge haben, über langfristige Entscheidungen für den ganzen Kontinent, und jeder verfügt über ein Vetorecht. Aber Europa wäre nach dem Zweiten Weltkrieg keine Erfolgsgeschichte geworden, hätten seine Gründerväter nur den Minimalkonsens angestrebt. Will die EU auch im 21. Jahrhundert Frieden, Wohlstand und Freiheit für ihre Bürger sichern, werden die nationalen Regierenden über ihre kurzfris­tigen politischen Interessen hinauswachsen müssen.

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