TIROLER TAGESZEITUNG „Leitartikel“ Ausgabe vom Mittwoch, 8. März 2023, von Jasmine Hrdina: „Wer die Wahl hat, hat den Stempel pick’n“

Innsbruck (OTS) Gleichberechtigung ist in Österreich trotz über hundert Jahren Frauenbewegung nur am Papier möglich. Das zeigen Statistiken auf. Es braucht erneut ein Wahlrecht für Frauen. Eines der Lebensform.

Einmal im Jahr holen wir nicht nur die Weihnachtsdeko aus dem Keller – die sorgt wenigstens für Stimmung. Nein, alle Jahre wieder rücken wir (Medien, Politik, Gesellschaft) am 8. März krampfhaft „Powerfrauen“ in den Fokus (dämlicher Begriff, wir sind keine Duracellhasen, sondern leisten, was wir leisten müssen, und mehr), räumen ihnen Platz für Kommentare ein und fordern kollektiv Gleichberechtigung. Besinnlichkeit gibt’s nur in Form von Floskeln. Seit 112 Jahren. Seit 112 Jahren. Nein, hier hat das Korrektorium keine Wiederholung übersehen. Man muss das nur betonen. Sicher gab es Errungenschaften – Frauenwahlrecht (1918), Frauen dürfen ohne Erlaubnis ihres Mannes arbeiten (1975), Vergewaltigung in der Ehe ist nicht mehr legal (1989), Gleichbehandlungsgesetz (1993) – dafür gilt es den Kämpferinnen und Kämpfern zu danken.
Und trotzdem hinken wir bei vielen Gleichberechtigungsparametern dem EU-Schnitt hinterher. Frauen verdienen für die gleiche Leistung weniger als Männer: Laut AK arbeiten Frauen gemessen am Gehalt männlicher Kollegen 47 Tage im Jahr unbezahlt, laut Statistik Austria (SA) beträgt der Lohnunterschied im Schnitt 18,8 %. Sie übernehmen mit zwei Dritteln der Sorgearbeit den Löwenanteil an unbezahlter Pflege und Kinderbetreuung – samt finanziellen Folgen im Alter: 26 % der allein lebenden Pensionistinnen sind armutsgefährdet (15 % der Männer, SA). Nur neun Prozent der Vorstandspositionen sind weiblich besetzt. Österreich rangiert im EU-Vergleich auf dem vorletzten Platz (AK). Dafür sind Frauen öfter Sexismus und Gewalt ausgesetzt: Jede fünfte erlebt in ihrem Leben sexuelle, psychische oder körperliche Gewalt. Alles bedingt sich gegenseitig, weil es immer auf die (finanzielle) Abhängigkeit der Frau hinausläuft: vom Ehemann, der Familie, dem Staat.
Es braucht ein Frauen-Wahlrecht. Eines der Lebensform. Kind und Karriere sind nur für einen Bruchteil vereinbar, Kinderbetreuungseinrichtungen, Pensionssplitting und Quoten ein möglicher Weg – von Experten seit Jahren aufgezeigt, von Regierungen verhindert. Auch Stigmatisierungen müssen ein Ende haben. Frau kehrt nach einer Geburt ehestmöglich an den Arbeitsplatz zurück – sie gilt als karrieregeile, egoistische Rabenmutter. Frau bleibt daheim, kümmert sich um die Familie – sie ist faul und zahlt nicht ins System ein. Wer die Wahl hat, hat nicht nur die Qual, sondern in jedem Fall einen Stempel picken. So wie Feminismus. Der hat nichts mit Hysterie oder Geltungsdrang zu tun, die gesamte Gesellschaft profitiert von Gleichberechtigung. Und die könnten wir gerne alle Jahre wieder feiern.

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