TIROLER TAGESZEITUNG „Leitartikel“ Ausgabe vom 9. November 2022, von Anita Heubacher: „Die Schulterluxation liegt am Tisch“

Innsbruck (OTS) In Österreich wird wieder einmal über die soziale Kompetenz von Ärzten und denen, die es noch werden wollen, diskutiert. Dass das System große Probleme hat, sieht jeder, sobald er Patient wird und die Arztrechnung bekommt.

Manche Ärzte sehen weniger den kranken Menschen, sondern eher die Schulterluxation, die es zu behandeln gilt. Dass Kommunikation und Wertschätzung nicht die Sache eines jeden Mediziners sind, wurde schon seit Langem als Problem identifiziert. Nicht zuletzt deshalb haben sich die Medizin-Universitäten in ihren Leistungsvereinbarungen mit dem Bildungsministerium verpflichtet, die soziale Kompetenz beim Aufnahmetest für das Medizin-Studium besser zu berücksichtigen. Mehr Gewicht darauf zu legen.
Seit Tagen ist Österreich auf der Suche nach der sozialen Kompetenz der Mediziner. Dass das derart unter die Haut geht, müsste für Branchenvertreter beunruhigend sein. Offenbar hat eine Vielzahl von Patienten den Eindruck gewonnen, dass es da tatsächlich ein Nachjustieren braucht.
Den Nährboden dafür liefert das Gesundheitssystem, das wahrlich große Probleme hat. Die Zweiklassenmedizin, früher erfolgreich abgeleugnet und besser in Zaum gehalten, hat sich in Österreich breitgemacht. Wer mehr bezahlt, wird besser oder zumindest schneller behandelt. Das scheint die Mehrheitsmeinung zu sein, wie sonst ließe sich der Zustrom zu Privatversicherungen erklären? Mit dem Eid des Hippokrates und der Wunschvorstellung vom selbstlosen Landarzt lässt sich das so ganz und gar nicht vereinbaren. Das Vertrauen schwindet, das Image des Berufes leidet.
Wer es sich leisten kann, geht zum Wahlarzt und zahlt zweimal. Einmal den oft gar nicht so niedrigen Sozialversicherungsbeitrag und die Honorarnote des Arztes. Was die Gesundheitskassen refundieren, ist teils ein verschwindend geringer Anteil. Obwohl es die 80 Prozent sind, die die Kasse einem ihrer Vertragsärzte an Honorar bezahlen würde. Das erklärt, warum kaum einer der jungen Ärzte Kassenarzt werden will und die Zahl der Wahlärzte stetig steigt. Das zeigt aber auch, dass das solidarische Gesundheitssys­tem an seine Grenzen gestoßen ist.
Wir haben in Österreich im Vergleich zu anderen EU-Ländern eine sehr hohe Ärztedichte und wohl eher ein Verteilungsproblem denn einen Ärztemangel. Studiert wird in vielen Fällen ein Fach, das einträglich ist. Mehr Schönheitschirurgie als Kinderheilkunde, um es plakativ auszudrücken. Einen Ausgleich könnte die Verteilung von Privatgeldern zwischen Fächern mit vielen und solchen mit wenigen Privatversicherten an Spitälern bringen. Dafür fehlt seit Jahren der Wille in der Ärzteschaft.
Es geht in vielen Bereichen zu sehr ums Verdienen. Das ist in anderen Berufen nicht anders, aber in der Medizin hat es einen fahlen Beigeschmack.

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