Tiroler Tageszeitung, Leitartikel, Ausgabe vom 8. November 2017. Von KARIN LEITNER. „Wenn es mittelaltert im Internet“.

Innsbruck (OTS) Immer mehr Menschen urteilen in sozialen Netzwerken immer rascher über andere. Und das auch noch, ohne den gesamten Sachverhalt zu kennen. Ein Plädoyer gegen Scharf- und Schnellrichtertum in virtuellen Zeiten.

20. Oktober, 20 Uhr: Die Wiener Zeitung gibt via OTS bekannt, dass ihr Chefredakteur „mit sofortiger Wirkung“ abgesetzt ist – wegen „anlassbedingten Vertrauensverlustes“.
Die Meldung verbreitet sich rasch in sozialen Netzwerken. Ebenso rasch wird in solchen reagiert – ohne den Sachverhalt zu kennen. „Umfärbeaktionen“ in dem Blatt, das der Republik zu eigen ist, werden attestiert – und kritisiert; Solidarität mit dem Journalisten wird bekundet.
Tags darauf wird bekannt, dass ihn eine junge Kollegin der sexuellen Belästigung zeiht; dessentwegen wurde er entlassen. Teils dieselben, die sich prompt ob politischer Motive echauffierten, rufen ein paar Stunden später sinngemäß: „Hängt ihn, den Schuft!“
Als die Causa Pilz publik wird, läuft es ähnlich. Es geht gleich um den Vorwurf der sexuellen Belästigung. Der Listengründer hat sich zu dem Zeitpunkt noch nicht dazu geäußert. Das Twitter- und Facebook-Tribunal werkt aber bereits.
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Hier sollen mitnichten Männer verteidigt werden, die Frauen sexuell belästigen. Selbstredend ist ein solches Vergehen inakzeptabel, es ist zu ahnden.

Hier geht es um etwas anderes, unabhängig von den beiden aktuellen Fällen: Darum, wie schnell manche Menschen nicht nur eine Meinung zu allem und jedem haben – die so genannten Experten für eh alles –, sondern wie sie binnen Sekunden unerbittlich urteilen. Ohne kundig zu sein. Ein paar Schlagworte reichen, der Titel einer verlinkten Geschichte genügt – um brachial loszuposten. Und das mitunter auch noch anonym.
Hat sich die Meute formiert, wird der (mutmaßliche) Übeltäter durch das virtuelle Dorf getrieben – unter Gejohle hin zum Pranger. Der kurze Prozess ist längst gemacht. Im Internet mittelaltert es. Dramatisch wird es, wenn sich herausstellt, dass etwas nicht war, wie es schien – für den Betroffenen. Und betroffen sein kann jeder. Immer wieder wird beklagt, dass die heimische Justiz zu langsam zugange ist; ja, das ist sie zuweilen.
Angesichts des Treibens in Gerichtshöfen auf Twitter & Co muss man darob nachgerade erleichtert sein. Auch deswegen, weil es im Rechtsstaat Staatsanwälte und Richter gibt – nicht beides in einer Person.
Scharf- und Schnellrichtertum ist dort gottlob seit Langem Geschichte.

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