Tiroler Tageszeitung, Ausgabe vom 20. Mai 2017; Leitartikel von Mario Zenhäusern: „Fremdwort Respekt“

Innsbruck (OTS) In diversen sozialen Netzwerken und Internetforen ist in Bezug auf Äußerungen zu heimischen Politikern jede Hemmschwelle gefallen. Wenn Volksvertreter derart zu Freiwild verkommen, werden sich immer mehr kluge Köpfe verabschieden.

Sie sei es ihrer Familie, ihren Söhnen und ihrem Mann schuldig, gesund zu bleiben. Mit diesen Worten verabschiedete sich am Donnerstag die Parteichefin der Grünen ins Privatleben. Eva Glawischnigs Rücktrittsbegründung ist bezeichnend, weil sie sich nicht nur auf die physische, sondern auch auf die psychische Gesundheit bezieht. Und weil sie nicht allein ihre Situation beschreibt, sondern die einer ganzen Politikergeneration.
Ein Job in der Politik war früher verbunden mit einem gewissen Ansehen, einem vergleichsweise guten Gehalt und der einen oder anderen Annehmlichkeit, die Frau und Herr Österreicher nicht hatten. Heute hat sich das grundlegend geändert. Die Politiker sind zwar für weit mehr verantwortlich als früher (eigentlich für alles), ihre Bezahlung aber ist im Vergleich zur Privatwirtschaft mehr als unterdurchschnittlich – jeder Chef eines mittelständischen Unternehmens verdient mehr als die heimischen Volksvertreter – und die so genannten Privilegien sind großteils gestrichen. Dafür liegen die Anforderungen in der Politik weit über dem Durchschnitt. 12- bis 15-Stunden-Tage sind die Regel, Sieben-Tage-Wochen ebenso.
Wer sich das trotzdem antut, der steht unter Dauerbeobachtung, gewissermaßen in der Auslage. Menschen setzen sich heute intensiver mit der Politik ganz allgemein und ihren Vertreterinnen und Vertretern im Besonderen auseinander als früher. Jede und jeder, die/der sich dazu berufen fühlt, kann ihren/seinen Kommentar zur betreffenden Person abgeben. Sie tun das in aller Offenheit, bei Veranstaltungen, Diskussionen, im persönlichen Gespräch, oder versteckt im Internet, unter dem Deckmantel der Anonymität, feig. Was in der direkten Konfrontation als im besten Sinne des Wortes „konstruktive Kritik“ durchaus befruchtend wirken kann, verkehrt sich in sozialen Netzwerken und Internetforen oft ins Gegenteil: je anonymer, desto aggressiver, hinterhältiger und unter die Gürtellinie zielender die Kommentare. Je weniger sie ihre Identität zu lüften gezwungen ist, desto weniger geniert sich eine wachsende Zahl an Menschen ihres eklatanten Mangels an einfachsten Regeln des Anstands. Der Begriff Respekt – vor dem Gegenüber, aber auch vor einer gegenteiligen Meinung – kommt in ihrem Wortschatz nicht vor. Solange sich das nicht ändert, braucht niemand darüber zu klagen, dass die Politik ins Mittelmaß abdriftet: Kluge Köpfe werden sich das bald nicht mehr antun, wollen sie sich ihre psychische Gesundheit bewahren.

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