Tiroler Tageszeitung, Ausgabe vom 12. Mai 2018; Leitartikel von Peter Nindler: „Der Sozialstaat als Reibebaum“

Innsbruck (OTS) Der Sozialstaat bewegt jährlich 100 Milliarden Euro an Unterstützungen, um Menschen vor der Armutsfalle zu bewahren. Das macht ihn für Missbrauch angreifbar. In der Sozialpolitik bleibt die soziale Treffsicherheit aber die größte Herausforderung.

Was muss, was soll und was kann der Sozialstaat leisten? 100 Milliarden Euro knüpfen jährlich ein eng­maschiges soziales Netz in Österreich, wobei 70 Prozent davon in Alters- und Gesundheitsausgaben fließen. Ohne diese Sozial­leistungen wären laut Schätzung des Gewerkschaftsbunds 43 Prozent aller Österreicher armutsgefährdet. Allerdings weist Österreich damit die vierthöchsten Sozialtransfers in der EU auf. Deshalb wird die Sozialpolitik in der politischen Auseinandersetzung immer öfter zum Reibebaum.
Nicht nur Effizienz und Ausgabenbewusstsein des Sozialstaats stehen auf dem Prüfstand, sondern auch seine Leistungen. Die von der schwarz-blauen Bundesregierung angestoßene Reformdebatte reicht von den Sozialversicherungen über eine um 100 Millionen Euro gekürzte Kinderbeihilfe im Ausland bis hin zur Mindestsicherung. Weil soziale Sicherheit eben eng mit sozialer Gerechtigkeit und einem verkraftbaren Verhältnis zwischen Einzahlern und Leis­tungsbeziehern verknüpft werden muss. Und da haben Bund, Länder und Gemeinden die finanzielle Belastungsgrenze bereits erreicht. Allein Tirols Kommunen sind mit jährlichen Steigerungen von sechs Prozent in der Daseinsvorsorge konfrontiert. Daher führt an der Treffsicherheit der eingesetzten öffentlichen Mittel kein Weg vorbei.
Die Milliarden im Sozialsystem machen es aber auch verwundbar. Für Missbrauch und Betrug. Wenn eine vorwiegend in der Türkei lebende Frau 100.000 Euro an Sozialleistungen erschleichen kann, ist die Empörung nachvollziehbar. Der Staat wird gemolken, der Vorwurf der sozialen Hängematte keimt auf. Pauschalurteile inklusive. Alle Kontrollmechanismen haben offensichtlich versagt. Insgesamt bewertet der Linzer Volkswirtschafter Friedrich Schneider den finanziellen Schaden aus Sozialmissbrauch jährlich mit rund 1,1 Milliarden Euro. Eine erkleckliche Summe, die eigentlich eine Handlungsanleitung zum genaueren Hinschauen wäre.
Das trifft auch auf Steuer- und Sozialversicherungsbetrug zu. Schneider beziffert ihn mit rund drei Milliarden pro Jahr. Der Staat wird dadurch ebenfalls abgezockt. Dass jetzt bei Dumpinglöhnen die Strafen gedeckelt werden und das so genannte Kumulationsprinzip fallen soll, widerspricht eigentlich notwendigen und kompromisslosen Strafen gegen den organisierten Sozialbetrug.
Denn nur auf Grundlage einer gerechten Finanzierung und ausgerichtet auf soziale Treffsicherheit, die stets kritisch hinterfragt werden muss, funktioniert der Sozialstaat. Wer ihn abzockt, betrügt ihn. Und damit den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

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