ÖIF-Publikation „Perspektiven Integration“: Expert/innen zu den Auswirkungen der Corona-Pandemie auf Migration und Integration

Peter Sloterdijk, Gudrun Biffl, Rudolf Bretschneider, Rainer Münz, Marie-Luise Krobath-Fuchs und Peter Webinger im Gespräch mit Köksal Baltaci

Einschätzungen aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu den Herausforderungen der Corona-Pandemie im Kontext von Migration und Integration geben in der neuen Ausgabe der Interviewreihe „Perspektiven Integration“ des Österreichischen Integrationsfonds (ÖIF) Peter Sloterdijk (Philosoph), Gudrun Biffl (Wirtschafts- und Migrationsforscherin), Rudolf Bretschneider (Sozial- und Marktforscher), Rainer Münz (Demograph und Migrationsforscher), Marie-Luise Krobath-Fuchs (Frauenberatungsstelle DIVAN) und Peter Webinger (Sektionschef Fremdenwesen im Bundesministerium für Inneres).

Sloterdijk: Die aktuelle Situation hat die traditionellen Unterscheidungen zwischen den Tätigkeiten von Männern und Frauen wieder etwas verstärkt

Für Peter Sloterdijk, Philosoph und einer der bedeutendsten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum, hängt die Wahrnehmung der Krise durch Migrant/innen vom Grad der erreichten Integration ab. So haben diejenigen, die im Kernfeld der Gesellschaft angekommen sind, vermutlich eine ähnliche Wahrnehmung wie Alteingesessene. Anders verhält es sich bei jenen mit instabilen, peripheren Beschäftigungen. Er ist zudem der Auffassung, dass in der Krise alte Schemata der weiblichen Kompetenzen verstärkt auftreten – in Pflegeberufen, im pädagogischen Bereich und in der familiären Kinderbetreuung. Er betont: „Ich glaube, dass die aktuelle Situation die traditionellen Unterscheidungen zwischen den Tätigkeiten von Männern und Frauen wieder etwas verstärkt hat, nachdem sie durch die kulturelle, luxuriöse Relativierung ins Mehrdeutige verschoben worden war.“

Biffl: Die Gewalt in der Familie nahm zu

Gudrun Biffl, Arbeitsökonomin, Wirtschafts- und Migrationsforscherin sowie Mitglied des Expertenrats für Integration, geht davon aus, dass vor allem gering qualifizierte Personengruppen sowie Alleinerzieher/innen und Mehrkind-Familien mit Alleinverdiener/innen geschwächt aus der Krise hervorgehen – häufig mit Migrationshintergrund und insbesondere dann, wenn der kulturelle Hintergrund nicht in der EU verortet ist und die Deutschkenntnisse schlecht sind. Sie stellt außerdem fest: „Traditionelle patriarchale Verhaltensmuster wurden sichtbar und verstärkt, zumindest in vielen Haushalten. Auch die Gewalt in der Familie nahm zu, nicht zuletzt infolge eingeschränkter Bewegungsfreiheit und knappen Wohnraums.“

Bretschneider: Wirtschaftlichen Folgen betreffen Bevölkerungsgruppen in unterschiedlicher Weise

Der Sozialforscher Rudolf Bretschneider erwartet mit Blick auf die wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie zwangsläufig „Erschütterungsausläufer“ in der Gesellschaft: „Nach ziemlich einheitlicher Einschätzung von Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlern werden die Folgen vor allem schon bisher einkommensschwache Gruppen treffen: Jene, die beengt leben, beruflich wenig qualifiziert sind – unter diesen sind auch Migrant/innen überproportional stark zu finden.“ Er macht auch deutlich, dass Migrationsbewegungen durch eine Reihe von Faktoren beeinflusst werden, die oft wirtschaftlichen und/oder politischen Charakter haben, und durch die Umstände in den Zielländern – sowie jenen, die man durchqueren muss – ermöglicht bzw. be- oder verhindert werden.

Münz: Besonders betroffen sind alleinerziehende Mütter

Demograph und Migrationsforscher Rainer Münz hebt hervor, dass in Zeiten der Corona-Krise besonders alleinerziehende Mütter und jene Frauen, die ihre berufliche Tätigkeit nicht ins Homeoffice verlagern konnten, im Alltag betroffen sind. Dazu zählt er insbesondere auch Mütter mit Migrationshintergrund, die im Gesundheits- und Pflegebereich sowie im Lebensmittelhandel gerade in der Krisenzeit für die Gesellschaft essenzielle Leistungen erbringen und zugleich einem höheren Infektionsrisiko ausgesetzt sind. Münz ist davon überzeugt, dass Kontaktbeschränkungen und Ausgangssperren von Einheimischen und Migrant/innen unterschiedlich erlebt werden: „Es sitzen zwar alle im selben Boot, aber einige hatten und haben weiterhin viel bessere Plätze als andere. So besitzen Einheimische fast überall in Europa größere Wohnungen, häufiger ein Eigenheim, oder einen Zeitwohnsitz im Inland, als Zugewanderte.“

Krobath-Fuchs: Ungleichheiten der Geschlechterrollen verdeutlichen sich in der Krise

Marie-Luise Krobath-Fuchs von der Frauenberatungsstelle DIVAN der Caritas Diözese Graz-Seckau weist auf die vermehrte Belastung von Frauen hin: „Viele Mütter sind mit der Verantwortung des Managements des Familiensystems und der Beaufsichtigung der Kinder – zusätzlich zu diversen beruflichen Agenden – belastet. Und junge Mädchen werden im Lockdown öfter als ihre Brüder zur Mithilfe bei der Hausarbeit und beim Umsorgen der (männlichen) Familienmitglieder eingeteilt, anstatt in der Schule zu sein. Die Erfahrungen der Frauen aus der Sicht von Caritas DIVAN zeigt, dass sich die Ungleichheiten der Geschlechterrollen in der Krise verdeutlichen.“

Webinger: Corona verstärkt den Migrationsdruck

Peter Webinger, Sektionschef Fremdenwesen im Bundesministerium für Inneres (BMI) rechnet mit zunehmenden Migrationsbewegungen Richtung Europa. Er ist der Meinung, dass sich die zum Teil ohnehin bereits prekären Bedingungen in den Herkunftsstaaten weiter verschlechtern werden: „Sicherheitspolitische Aspekte und die wirtschaftliche Situation in den Hauptherkunftsländern werden durch COVID-19 beeinflusst und die teils bestehende wirtschaftliche Not wird zunehmend verschärft. Dadurch wird der Migrationsdruck verstärkt werden. Hinzu kommen klimabedingte Verwerfungen wie Dürre und Hunger. Migrationszahlen unterliegen generell einer hohen Volatilität. Gegenwärtig ist aber anzunehmen, dass Migrationsbewegungen tendenziell wieder zunehmen werden.“

„Perspektiven Integration“: Sachliche Expert/innen-Interviews zu kontroversiellen Themen

Die Publikationsreihe „Perspektiven Integration“ des ÖIF thematisiert aktuelle Herausforderungen im Integrationsbereich mit anerkannten Wissenschaftler/innen, Forscher/innen und Expert/innen. Die Interviews führt „Die Presse“-Redakteur Köksal Baltaci. Alle bisher erschienenen Ausgaben der Publikationsreihe „Perspektiven Integration“ finden Sie hier zum Download: https://www.integrationsfonds.at/perspektiven.

Rückfragen & Kontakt:

Österreichischer Integrationsfonds
Kim Izdebski
+43 1 710 12 03 -322
kim.izdebski@integrationsfonds.at



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