Interview mit Kerosin95: Auch provozierende Fragen möglich

Wien (OTS) Der Senat 3 des Presserats befasste sich mit dem Artikel „Kerosin 95: ‚Das ist verinnerlichte Arroganz‘“, erschienen am 08.03.2021 auf „derstandard.at“. Nach Auffassung des Senats ist das darin veröffentlichte Interview mit einer nichtbinären Person von der Pressefreiheit gedeckt.

Im Interview geht es zunächst darum, weshalb die Kunstfigur Kerosin95 auf genderneutraler Sprache bestehe. Dabei merkt der Interviewer an, dass Studien zufolge 0,5 Prozent der Bevölkerung transgender seien und ob man deswegen die Sprache von 99,5 Prozent verändern solle. Hierzu antwortet Kerosin95, dass sie* zu Statistiken nichts sagen könne und es viel mehr Leute seien, als wir glauben. Danach geht es im Interview um die Frage, ob nicht Gleichberechtigung das bedeutendere Ziel sei als die Befriedigung individuell gefühlter Bedürfnisse; der Interviewer hält u.a. fest, dass George Floyd systematischer Rassismus trotz korrekter Ansprache als Afroamerikaner das Leben gekostet habe. Schließlich wird erörtert, welche Formen der Anrede für Kerosin95 beleidigend seien.

Zahlreiche Leser*innen wandten sich an den Presserat und kritisierten das Interview als transphob, sexistisch und respektlos. Zudem würden Rassismus und die Sichtbarmachung nichtbinärer Geschlechter gegeneinander ausgespielt, so einige der Leser*innen.

Zunächst hält der Senat fest, dass Journalist*innen bei der Fragestellung in Interviews ein großer Ermessensspielraum zukommt. Es ist Ausdruck der Pressefreiheit, im Zuge eines Interviews auch kritische oder sogar provozierende Fragen zu stellen. Bei Interviewfragen reicht das journalistische Ermessen auch deshalb weit, weil der Interviewpartner unmittelbar und spezifisch auf die Fragen eingehen und seine Sicht der Dinge erläutern kann. Außerdem weist der Senat darauf hin, dass die im vorliegenden Interview besprochenen Themen für den gesellschaftlichen Diskurs relevant sind, sodass die Presse- und Meinungsfreiheit von Vornherein weit auszulegen ist.

Hinzu kommt, dass Kerosin95 – eine Kunstfigur, die am öffentlichen Leben teilnimmt – in ihren* Songtexten sich oftmals mit Geschlechterrollen und queerfeindlichen Situationen im Alltag auseinandersetzt; auch von den Medien fordert Kersoin95 eine genderneutrale Berichterstattung ein. Vor diesem Hintergrund erscheint es naheliegend, Kerosin95 in einem Interview mit Fragen über Gender- und Geschlechterpolitik zu konfrontieren.

Nach Auffassung des Senats ging es dem Journalisten offensichtlich darum, Kerosin95 mit genderpolitischen Gegenpositionen zu konfrontieren, die in Teilen der Gesellschaft nach wie vor verbreitet sind. In Anbetracht dessen kann es der Senat nachvollziehen, dass der Journalist die verschiedenen Vorbehalte von Teilen der Gesellschaft in einem Interview mit einer nichtbinären Person aufgreift. Aus medienethischer Sicht bewertet es der Senat auch als unbedenklich, gendergerechte Sprache und strukturellen Rassismus einander gegenüberzustellen – selbst wenn diese Gegenüberstellung überspitzt ist oder von manchen Expert*innen möglicherweise kritisch betrachtet wird. Im Rahmen ihrer* Antworten wurde Kerosin95 außerdem die Möglichkeit geboten, ihre* Position ausführlich darzulegen und dadurch auch gewisse Vorurteile zu entkräften.

Zuletzt stuft der Senat den Beitrag auch nicht als diskriminierend gegenüber nichtbinären Menschen ein. Zwar kann es der Senat nachvollziehen, dass manche Formulierungen als ein wenig unsensibel bzw. provokant angesehen werden können – etwa, dass 0,5 Prozent die Sprache von 99,5 Prozent verändern würden. Nach Auffassung des Senats wurden diese zugespitzten Formulierungen aber vor allem deshalb gewählt, damit Kerosin95 genderpolitische Gegenpositionen thematisieren kann; eine gezielte Verunglimpfung von Minderheiten erkennt der Senat darin jedoch nicht.

SELBSTÄNDIGES VERFAHREN AUFGRUND VON MITTEILUNGEN MEHRERER LESER*INNEN

Der Presserat ist ein Verein, der sich für verantwortungsvollen Journalismus einsetzt und dem die wichtigsten Journalisten- und Verlegerverbände Österreichs angehören. Die Mitglieder der drei Senate des Presserats sind weisungsfrei und unabhängig. Im vorliegenden Fall wurde der Senat 3 aufgrund von Mitteilungen mehrerer Leser*innen tätig und teilt seinen medienethischen Standpunkt. Die Medieninhaberin von „derstandard.at“ hat die Schiedsgerichtsbarkeit des Presserats anerkannt.

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Alexander Warzilek, Geschäftsführer, Tel.: +43 – 1 – 23 699 84 – 11



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